عربي - English - Française - Português - Español - - Italiano - русский

Begeistert zogen junge Frauen aus Europa ins "Kalifat" der Terrormiliz Islamischer Staat, um den wahren Islam zu leben. Nun kehren die ersten traumatisiert zurück und fürchten die Rache der Fanatiker.

"Dschihad-Bräute" werden sie etwas despektierlich genannt, jene Frauen, die in das "Kalifat" der selbst ernannten Gotteskrieger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ziehen. In der Regel werden sie mit islamistischen Kämpfern zwangsverheiratet und glauben daran, eine reine islamische Gesellschaft aufzubauen, einen Gottesstaat wie zu Zeiten des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Sie träumen von einem erfüllten, religiös dominierten Leben unter Gleichgesinnten.

Die meisten dieser Mädchen und jungen Frauen fühlen sich oft unverstanden und sind schlecht bis gar nicht integriert in den westlichen, demokratischen Gesellschaften. Sie sind also leicht manipulierbar. Und sehr empfänglich für das von den IS-Propagandisten via professionell inszenierter Videofilme transportierte Image eines perfekten Islam im "Kalifat", das vorgibt, gegen alle Widerstände sein vermeintliches Recht auf eine anachronistische Gesellschaftsordnung durchsetzen zu wollen. Andere Frauen sind sehr wohl integriert, verfügen gar über akademische Bildung. Trotzdem werden sie offenbar in einer labilen Phase ihre Lebens von demagogischen Predigern radikalisiert und wollen den IS unterstützen.

Unlängst hat die Quilliam-Stiftung in London, die über denRadikal-Islamismusforscht, ein 40-Seiten-Handbuch übersetzt, in dem eine ominöse IS-Frauengruppe eine multikulturelle Traumwelt vom "IS-Kalifat" zeichnet. "Der Tschetschene ist hier ein Freund des Syrers, der Golf-Araber ein Nachbar des Kasachen", heißt es darin. Nirgendwo sonst sei es möglich, in solcher Eintracht mit dem muslimischen Glauben zu leben.

Das Pamphlet lässt aber die geneigte Leserin auch nicht im Unklaren darüber, was sie als Frau im "Kalifat" erwartet: "Der Zweck ihrer Existenz ist die göttliche Pflicht der Mutterschaft." Der IS braucht Ehen, Familien, Kinder, um seine bizarre Version eines reinen islamischen Staates mit Leben zu füllen.

Euphorisiert und verblendet, verbunden mit einer emotionalen Mischung aus Romantik, Naivität und Abenteuerlust, verlassen junge Frauen ihre Familien in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, den USA, Japan und ziehen in das ihnen so angepriesene gelobte Land. Die 19-jährige Shannon Conley aus dem US-Bundesstaat Colorado wollte einen IS-Dschihadisten, den sie nur aus dem Internet kannte, heiraten und in das "Kalifat" reisen.

Viele Frauen begnügen sich nach einer Verheiratung mit einem Dschihadisten mit einer traditionellen Rolle am Herd und im Haus, gehen in der Rolle der treu sorgenden Ehefrau und Mutter auf. Shannon Conlay kam jedoch nicht weit: sie wurde noch vor ihrer Ausreise festgenommen, angeklagt und zu vier Jahren Haft verurteilt. Ein krachendes Urteil, zur Abschreckung gedacht.

Die 26 Jahre alte Britin Tareena Shakil, die Psychologie studiert und gern westliche Musik gehört hat, verbreitete plötzlich auf ihrer Facebook-Seite islamistische Propaganda und nannte sich selbst eine "Sklavin Allahs". Irgendwann Ende vergangenen Jahres reiste sie mit ihrem damals einjährigen Sohn Zaheem ins IS-Gebiet. Der IS wollte sie mit einem Kämpfer verheiraten, zu einer Dschihad-Braut machen. Sie weigerte sich, er schlug sie.

Bald erreichten verzweifelte Nachrichten ihre Familie auf der britischen Insel: "Bitte helft mir! Ich habe einen dummen Fehler gemacht. Bitte, Dad, komm her und hol mich hier raus!" Auf abenteuerliche Weise gelang ihr schließlich die Flucht: Sie bestach einen Taxifahrer, der sie und ihren Sohn in die Nähe der türkischen Grenze brachte, wo sie durchs Niemandsland lief, den Grenzzaun überwand und mit blutenden Händen und Füßen in ein türkisches Krankenhaus kam. Im Februar wurde sie in London nach der Landung ihres Flugzeuges verhaftet. Ihr droht ein Prozess wegen Kindsentführung und -vernachlässigung.

Der IS hält für die ambitionierteren unter den Dschihad-Pilgerinnen auch andere Rollen bereit: Sie werden zur Versorgung der Frontkämpfer, als Geheimdienstinformanten, Lehrerinnen oder als Sanitäterinnen und Ärztinnen eingesetzt. Doch es scheint, als steige die Zahl der Frauen, die an der Realität im "Kalifat" verzweifeln, die so anders ist, als ihnen von den Rekrutierern mit ihren blühenden Erzählungen verheißen wurde. Selbst männliche Rückkehrer bestätigen, dass im Kalifat ein Klima der Angst, des Misstrauens und der Erbarmungslosigkeit herrsche und grausamste Hinrichtungen auch unter "IS-Brüdern" an der Tagesordnung seien.

Der IS übt dennoch eine große Faszination aus auf alle, die sich gedemütigt, verkannt und fremd fühlen in ihren jeweiligen Gastgesellschaften. Der Zustrom in das "Kalifatsgebiet" ist ungebrochen hoch. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu erklärte, sein Land habe gegen 12.800 Verdächtige ein Einreiseverbot verhängt. 1300 ausländische Kämpfer seien ausgewiesen worden.

Die Türkei ist das Haupttransitland für die sinnsuchenden Fanatiker. Gerade wurde eine sechsköpfige Familie aus Großbritannien in Ankara gestoppt. Die 33 und 29 Jahre alten Eltern wollten mit ihren Kindern im Alter von eins bis sieben Jahren nach Syrien, ins "Kalifat". Der Familienvater war zuvor von islamistischen Predigern radikalisiert worden.

Einige Frauen wähnen sich offenbar auf einer humanitären Mission, sie wollen ihren Glaubensbrüdern helfen. Einige fühlen sich geehrt, wenn ihnen im "Kalifat"andere Aufgaben als jene am Herd zugedacht werden. Das Londoner Zentrum zur Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt (ICSR) schätzt, dass mindestens 20.000 Ausländer im Gebiet des "Kalifats" in Nordsyrien und dem Nordirak aufseiten des IS kämpfen, 4000 davon aus dem Westen, 550 von ihnen Frauen.

Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass aus Deutschland 70 Mädchen und Frauen ins IS-Herrschaftsgebiet gereist sind, neun davon minderjährig, die jüngste 13 Jahre alt. In Großbritannien geht man von 60 Frauen aus. Die meisten aber stammen offenbar aus Frankreich, mehr als 100 sollen es sein. Die Al-Khanssaa-Brigade (Gazellen-Brigade) im nordsyrischen Rakka etwa besteht ausschließlich aus Frauen. Ihre Aufgabe ist es, Frauen zu bestrafen, die die strikten Regeln der islamistischen Moralvorstellungen verletzen. Eine Art Sittenpolizei – von Frauen für Frauen.

Man müsse die Dschihadistenmiliz endlich entzaubern, sagt ein angesichts ungebrochen hoher Zahlen kampf- und ausreisewilliger Salafisten besorgter Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen. 7300 Sympathisanten des IS vermuten die Sicherheitsbehörden allein in Deutschland. Gegen die IS-Propaganda helfe nur "Aufklärung über die grausame Wirklichkeit", sagt Maaßen.

Den IS entzaubern, wie geht das am besten? Indem man denjenigen zuhört und über sie berichtet, die traumatisiert und desillusioniert aus dem Herrschaftsgebiet des IS fliehen konnten und nun in Todesangst leben vor den Häschern der totalitären Islamisten. Zwei dieser Frauen haben dem britischen Fernsehsender Sky News erzählt, wie die Realität hinter den heroisierenden Videos und Hochglanz-Propagandafotos aussieht.

Beide dienten in der IS-Frauenbrigade, beide waren verheiratet mit Frontkämpfern, beide flohen und verstecken sich nun in der Türkei. Eine 20-jährige, die sich Doaa nennt, floh aus Syrien, nachdem ihr saudi-arabischer Ehemann sich in einem Selbstmordattentat in die Luft gesprengt hatte. Ihre Aufgabe in der Brigade sei es gewesen, jene Frauen zu bestrafen, die gegen die Kleiderordnung der Islamisten oder andere Regeln des "Kalifats"verstoßen hätten.

"Wenn eine Frau versuchte zu fliehen, wurde sie mit 60 Peitschenschlägen bestraft. Wenn sie die Abaja (ein meist schwarzes mantelartiges Übergewand, das vom Hals bis zu den Füßen reicht; d. Red.) nicht trug oder hochhackige Schuhe anzog, waren 40 Peitschenhiebe der Standard. Am meisten empörte mich, wenn alte Frauen geschlagen wurden, weil sie sich nicht regelgemäß kleideten", erklärte Doaa. "Sie schlugen und demütigten Frauen, die meine Mütter hätten sein können."

Vier Wochen habe das Waffentraining für die Mitgliedschaft in der Frauenbrigade gedauert – für monatlich knapp 100 Euro Lohn. Die andere Zeugin, die sich "Umm Ous" nennt, will viele ausländische Frauen in der Brigade getroffen haben – aus Europa und sogar aus Japan. Während die Dschihadistinnen aus dem arabischen Raum vor allem zu Straßenpatrouillen, Checkpoints und Hausdurchsuchungen eingesetzt würden, seien jene aus Europa, den USA oder Asien oft direkt an der Front aktiv.

Von den Frauen aber geht nach ihrer Flucht und Rückkehr nach übereinstimmender Ansicht der Sicherheitsbehörden kaum Gefahr aus. Anders verhält es sich mit radikalisierten und kampferprobten Rückkehrern, sogenannten Gefährdern. Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz gehen davon aus, dass allein nach Nordrhein-Westfalen knapp 50 ehemalige IS-Kämpfer zurückgekehrt sind. Etwa zehn von ihnen wollen ihren Dschihad offenbar in Deutschland fortsetzen. Die übrigen 40 offenbarten sich den Behörden. Sie sind traumatisiert und desillusioniert.

Immerhin konnten sie entkommen. Für die Frauen ist die Flucht ungleich schwieriger, denn sie brauchen für die Reise durch IS-Gebiet und zum Übertritt in die Türkei einen männlichen Vormund. Wer sollte das wohl sein? Viel wahrscheinlicher ist, dass fluchtwillige Frauen von den IS-Schergen eingesperrt werden. So manche Abenteuerreise endet für die jungen Frauen offenbar dort, wo sie weder anderen noch sich selbst helfen können: im Gefängnis der Religionsdiktatur Islamischer Staat.

www.welt.de