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Die Theorie vom „Kampf der Kulturen“, die von Samuel Huntington in den 90er Jahren entwickelt wurde, ist seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und den darauf folgenden Kriegen in Afghanistan und dem Irak immer einflussreicher geworden. Ereignisse wie der Karikaturenstreit oder die Auseinandersetzungen um die Rede des Papstes im Jahr 2006 gelten als weitere Belege dafür, dass die maßgeblichen Ursachen für Konflikte im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen, bzw. Religionen zu suchen sind – und der Islam gilt dabei als besonders aggressiv.
Auch für die Muslime in Europa hat diese Kulturkampftheorie direkte Folgen, denn immer wieder wird die Ansicht vertreten, dass der Islam Europa wesensfremd sei und die Behauptung aufgestellt, Muslime seien in Europa nicht integrierbar.
Es ist daher wichtig, genauer hinzuschauen: Wie ist das mit dem Islam und den Muslimen in Europa?

Muslime in Europa
Zunächst einmal müssen wir uns darüber einigen, von welchem Europa wir sprechen. Oft sagen wir „Europa“ und meinen eigentlich Westeuropa, also vor allem die Staaten, die sich in der Europäischen Union zusammengeschlossen haben – jedenfalls bis 2004, denn dann



Moschee in Bulgariens zweitgrößter Stadt Plovdiv (vorne)



erfolgte die erste Osterweiterung. Mit ihr und der zweiten Osterweiterung im Jahr 2007 hat sich Europa als politisches Gebilde erheblich nach Osten verschoben. Mit Bulgarien ist dabei z.B. ein Land zur EU dazugekommen, das eine alteingesessene muslimische Minderheit von 12-15% hat. Wenn wir Europa als eine geographische Einheit betrachten, dann liegt Europas Mitte in Litauen, nahe bei Vilnius. Da wo wir den Osten Europas vermuten, liegt also eigentlich seine Mitte.

Die Frage danach, wo Europa eigentlich liegt, ist für die Rolle des Islams in Europa nicht unerheblich. Wenn wir Europa als geographische Größe betrachten, mit dem Uralgebirge als Ostgrenze und dem Kaukasus als Grenze im Südosten, dann leben in Europa ca. 53 Millionen Muslime.[1] Davon entfallen auf den europäischen Teil der Türkei etwa 6 Millionen. Es gibt zwei Staaten in Europa, die eine muslimische Bevölkerungsmehrheit haben, das sind Bosnien-Herzegowina und Albanien. Muslimische Mehrheiten gibt es aber auch im Norden Zyperns, im Kosovo, in einigen Provinzen Mazedoniens, Griechenlands und Bulgariens. Ein Drittel der Muslime in Europa lebt in den russischen Teilrepubliken wie Tatarstan, Dagestan,




Die Kul-Scharif-Moschee in Kasan



Tschetschenien und Inguschetien. Die Kul-Scharif-Moschee in Kasan ist die größte Moschee Russlands und wahrscheinlich auch Europas. Mit der benachbarten Mariä-Verkündigungs-Kathedrale gilt sie als Symbol für das friedliche Zusammenleben der muslimischen und orthodoxen Bevölkerung von Tatarstan.

Die osteuropäischen Muslime leben in Europa seit Jahrhunderten, viele von ihnen sind unter osmanischer Herrschaft Muslime geworden und nach dem Ende der osmanischen Herrschaft dort geblieben, wo sie lebten. In Russland, im Nordkaukasus, reicht die Geschichte des Islams jedoch fast 1300 Jahre zurück und ist damit älter als die erste russische Staatsgründung an sich. Als erstes Volk des heutigen Russlands nahmen im 8. Jahrhundert die Dagestaner den Islam an. Die Stadt Kasan wurde von muslimischen Wolgabulgaren im Jahr 1005, d.h. 150 Jahre vor Moskau gegründet. Auch die Wolgabulgaren traten bereits im 10. Jahrhundert, noch vor der Christianisierung Russlands, zum Islam über.
Aber an die Muslime im Osten und Südosten Europas wird selten gedacht, wenn man vom Islam in Europa spricht. Im Vordergrund stehen vielmehr die in der Nachkriegszeit in westeuropäische Länder vorwiegend als Arbeitsmigranten eingewanderten Muslime, die nun zum Teil in der dritten Generation hier leben. Diese Gruppe wird auf etwa 15 Millionen geschätzt, ist also de facto der kleinere Teil der Muslime in Europa. Dennoch entsteht häufig der Eindruck, der Islam sei in Europa ein neues Phänomen.
Europas Wurzeln
Gerade weil Europa – zumindest im Osten – keine eindeutigen geographischen Grenzen hat (als Kontinent müsste man ja eigentlich von Eurasien sprechen) braucht man andere Kriterien, um Europa zu definieren. Hier kommen dann kulturelle Aspekte ins Spiel, und das ist ein heiß umkämpftes Feld. Da wird nach Wurzeln und Ursprüngen gesucht, man beruft sich auf ein Erbe und auf Traditionen. Manche Traditionen werden eingeschlossen, andere ausgeschlossen, wie lange Zeit das Judentum und bis heute die Ostkirchen – und eben der Islam. Die Suche nach den Ursprüngen ist immer dann besonders intensiv, wenn es um die Zukunft geht, und hier geht es um die Frage der Zukunft des Islams und der Muslime in Europa. Europas Wurzeln sind also eine hochpolitische Angelegenheit, und deshalb gibt es so unterschiedliche Vorstellungen davon.
Wir können zum Beispiel in der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei, wie auch im Kopftuchstreit beobachten, wie mit bestimmten europäischen Traditionen argumentiert wird, um zu zeigen, dass das der Islam nicht nach Europa gehört. So begründete z.B. der frühere Bundeskanzler, Gerhard Schröder, seine Meinung, dass das Kopftuch im Staatsdienst keinen Platz habe, folgendermaßen: „Wir sind beeinflusst von drei großen Traditionen: der griechisch-römischen Philosophie, der christlich-jüdischen Religion und dem Erbe der Aufklärung.“ Der Islam kommt in dieser Aufzählung nicht nur nicht vor, sondern es wird impliziert, dass die genannten Traditionen dem Islam entgegenstehen – denn sonst wären sie ja kein Argument gegen das (islamische) Kopftuch.
Was ist von dieser Aufzählung – christlich-jüdische Religion, griechisch-römische Philosophie – und Aufklärung zu halten?
Die christliche und jüdische Religion kommen wie auch der Islam nicht aus Europa, sondern aus dem Orient. Es gibt eigentlich keinen vernünftigen Grund, diese drei Religionen, die als abrahamitische so eng zusammen hängen, zu trennen, indem man zwei zu europäischen Religionen macht und die dritte zu einer außereuropäischen. Auch wenn man die an sich unsinnige Frage stellt, wer zuerst da war, muss man feststellen, dass der Islam in manchen Gebieten Europas früher da war als das Christentum. Das gilt wie gesehen für Gebiete im heutigen Russland, und auch in Spanien wurden Siedlungen und Städte von Muslimen gegründet und erst durch (Re-)conqista und Inquisition christianisiert.



Muslimische Herrschaft in Spanien im Jahr 719



Spanien (al-Andalus) habe ich bisher noch nicht erwähnt, weil im Unterschied zu Osteuropa dort keine muslimischen Gemeinschaften überlebt haben. Spanien war in unterschiedlicher Ausdehnung vom 8. bis ins 15. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft. Insgesamt lebten Muslime dort über 900 Jahre bis die spanische Inquisition, die nach dem erfolgreichen Ende der Reconquista einsetzte, sie zusammen mit den Juden vertrieben oder getötet hat. Muslime lebten also annähernd ein Jahrtausend in Westeuropa und das reicht nicht, um den Islam in die Reihe der europäischen Traditionen aufzunehmen?
Schauen wir uns als nächstes die Philosophie an. Die griechische Philosophie wurde im Abendland durch muslimische Philosophen in Andalusien bekannt gemacht. Diese waren nicht nur bloße Übermittler – wie manchmal behauptet wird, um ihre Leistung zu schmälern –,




Statue von Ibn Ruschd (Averroes) in Cordoba



sondern sie haben das griechische Denken weiter entwickelt und um neue Fragestellungen bereichert. Der Wichtigste von ihnen war Ibn Ruschd oder Averroes. Ibn Ruschd war  Universalgelehrter, bewandert in Philosophie, Theologie, Fiqh (das sogenannte “Islamische Recht”), Astronomie, Mathematik und Medizin. Sein großes philosophisches Thema war die Vereinbarkeit von Religion und Philosophie. Er vertrat die Meinung, dass der Koran den Gläubigen mit der Aufforderung zum Nachdenken den Auftrag zur Philosophie gibt. Religion und Philosophie sind für ihn zwei Wege zur gleichen Wahrheit. Berühmt wurde er durch seine Aristoteleskommentare. Sein Einfluss auf die lateinische Philosophie des Mittelalter war immens, seine Kommentare wurden an allen Universitäten verwendet. Auch die Arbeit seiner Gegner, zu denen vor allem Thomas von Aquin zählt, der Dominikaner, der für die katholische Kirche so wichtig geworden ist, kann man sich ohne die Leistungen von Ibn Ruschd nicht vorstellen. Frieder Otto Wolf, Privatdozent für Philosophie an der FU Berlin, sagt u.a. deshalb „Ohne die islamische Philosophie hätte es weder Scholastik noch Aufklärung geben können“ und kommt zu dem Schluss: „Der Islam ist nichts der europäischen intellektuellen Tradition Äußerliches, sondern er gehört selbst wesentlich zu unserem westeuropäischen Kulturerbe“.[2] Das ist nun allerdings eine Wahrheit, die die Idee vom ausschliesslich christlichen Abendland in Frage stellt und daher heftige Abwehrreaktionen hervorgerufen hat.

„Der Triumph des Hl. Thomas von Aquin über Averroes“, Benozzo Gozzoli (15. Jh.)


Diese werden z.B. in einem Motiv deutlich, das von verschiedenen Malern gestaltet wurde: „Der Triumph des Hl. Thomas von Aquin über Averroes“, z.B. von Benozzo Gozzoli (15. Jh.), Andrea Bonaiuto (14 Jh.) und
Giovanni di Paolo (15. Jh.). Das Motiv offenbart auf eigentümliche Weise das, was es verbergen soll: dass Thomas von Aquin seine Synthesen ohne die Auseinandersetzung mit den Schriften des Ibn Ruschd nicht hätte entwickeln können.
Kommen wir zum letzten Punkt in der Aufzählung, der Aufklärung. Die Gedanken der muslimischen Philosophen waren nicht nur für ihre Zeitgenossen im Mittelalter interessant, sondern auch für die Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Ein philosophischer Roman von Ibn Tufail, einem Lehrer des Ibn Ruschd, war 1671 unter dem Titel „Philosophus Autodidactus“ ins Lateinische übersetzt worden und verbreitete sich erstaunlich schnell unter den Gelehrten Europas. Leibniz, Baruch Spinoza, John Locke, Friedrich Nicolai und Lessing haben ihn unter anderen gelesen. Man kann Gedanken aus diesem Roman in den Werken einiger Aufklärer wiederfinden, insbesondere bei John Locke und Lessing.[3] Vor dem Hintergrund, dass Aufklärung und Islam immer als Widerspruch gedacht werden, ist das ein interessanter Befund. (Zur Aufklärung am Schluss noch mehr).


Quelle:www.al-sakina.de