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Die islamische Geschichte ist ein zeitlicher Verlauf, in dem die islamische Lehre im Individuum und in der Gesellschaft Verkörperung findet. Von der ersten Offenbarung bis heute, entstand und entsteht die islamische Geschichte mit ihren geistigen Bewegungen und gesellschaftlichen Ereignissen aus einer bestimmten Lebensanschauung.

Der Koran entwickelte zunächst im Rahmen bestimmter Wertvorstellungen eine neue Mentalität, Lebensweise, ein Menschen- und Gesellschaftsmodell. Ideenwelt und Spiritualität, Familie und Gesellschaftsstruktur, Handel und städtische Architektur sind von der Offenbarung und der Sunna geprägt. Genau so, wie der Koran den Dreh- und Angelpunkt der der Sunna des Propheten darstellt, so stellt die Sunna die Stütze der islamischen Wissenschaften dar.



Die Sunna ist eine Verkörperung der Offenbarung, sie ist die ausgeübte und gelebte Exegese und sein Übergehen in Geschichte und Natur. Deshalb „entspringen die Aussagen des Propheten Muhammad (saw) nicht aus ihm selbst, sondern haben ihren Ursprung in dem ihm Offenbarten. Für die von der Offenbarung geprägte Einstellung ist die Konsequenz aus dem Gebot „Ikra“ (Lies!) die Reflexion über das Leben und die Gesellschaft. Diese werden anhand seiner Aussprüche, seiner Taten, seiner Mimik und Gestik, seiner ihm angeborenen positiven Eigenschaften und seiner moralischen Handlungen zum Ausdruck gebracht.



Noch vor den Worten und den Taten ist die Sunna zunächst einmal eine Auffassung, die Verhaltensweise des Menschen angesichts der Vorgänge in seiner Seelenwelt und in der Gesellschaft. Aus dieser Anschauung gingen Aussprüche und Handlungsempfehlungen hervor. Die Ablehnung der besonderen Bedeutung dieser Handlungen gehört zu den Krankheiten unseres Zeitalters.



Die Islamischen Wissenschaften entstanden vor allem nach dem Prozess der Niederschrift und der Anordnung der Koransuren und Hadithe in den Koran- und Hadithwissenschaften. In den ersten Jahrhunderten wurde unter Wissenschaft das Studium der Hadithe verstanden. Der Ausspruch des Propheten „Sie sind wie Sterne, egal welchem ihr folgt, ihr findet den rechten Weg“ geht auf die Entstehung von den Schulen der Prophetengefährten und der Gründung von neuen Wissenschaftsbereichen zurück. Die Entsendung von Lehrern in die verschiedene Regionen zur Zeit des Propheten geschah auch während der Regierungszeit der vier rechtgeleiteten Kalifen, so dass z. B. in Mekka die Schule des Ibni Abbas, in Medina die des Malik bin Anas und im Irak die des Ibni Masud entstanden. Die hanafitische Rechtsschule (Mazhab) hat ihren Ursprung in der Lehre Abdullah ibni Masuds und ist von der Methode sowie dem Inhalt her die Fortführung dieser Lehre.



Im Grunde sind viele der Rechtsschulen auf die Gefährten und somit auf den Propheten zurückzuführen. Diese Verbindung verkörpert das unterschiedliche Ausmaß und die unterschiedlichen Ausrichtungen des prophetischen Erbes. Diese Weitergabe von Wissen setzte sich in Form von Schulen, die infolge der Auswanderung der Gefährten (Ashâb) in verschiedene Regionen entstanden, und mit der Gestaltung der Gesellschaft fort.

Aus dieser Sicht betrachtet war es insbesondere im ersten Jahrhundert von Bedeutung, sich in den Islamischen Wissenschaften einer Lehrtradition anzuschließen und die Lehre des Propheten weiterzugeben. Der Überlieferer des Hadith muss der Person, die ihn wiedergibt bekannt sein, und im Falle einer Koraninterpretation muss der Interpret seine Auffassung mit einer bestimmten historischen Lehre verknüpfen. Eines der wesentlichen Unterschiede zwischen der  Epistemologie des islamischen Denkens und den anderen Kulturparadigmen ist die wissenschaftliche Zugehörigkeit (zu einer historischen Lehrtradition).



Eine weitere Eigenheit der Islamischen Wissenschaften, die von der Sunna herrührt, ist dessen Spiritualität und das Ethiksystem. Die Person, die den Hadith überliefert, beschränkt sich nicht darauf, den Hadith wiederzugeben. Er stellt die Situation dar, in der der Prophet den Hadith zum Ausdruck brachte. Wenn der Prophet bei der Darlegung des Hadith eine Haltung zutage legte oder sich auf eine besondere Art verhielt, griff der Überlieferer diese ebenfalls auf. Aus diesem Grund ist ein Hadith nicht nur die Weitergabe eines Ausspruchs, sondern auch die Überlieferung einer seelischen Empfindung und einer gesellschaftlichen Haltung, also das Lebendigwerden der Herzen durch das Wort bzw. die praktische Umsetzung des Wortes. So ist es nicht verwunderlich, dass „Gelehrte sich vor Allah am meisten  fürchten“, denn ihr Wissen führt zu einer spirituellen Tiefe. Der Hadithwissenschaftler lässt die Atmosphäre, in der der Hadith entstand wieder beleben. Beim Eintreten ins Haus rezitiert er den Gebetsspruch, den der Prophet rezitierte, während eines Gewitters gedenkt er Allah. So ist die Überlieferung eines Hadith mehr als eine reine Weitergabe von Aussprüchen. Sie überliefert der Gesellschaft und den neuen Generationen eine besondere Lebenseinstellung. Ein Hadith ist nicht die Wiederholung eines Zeitabschnitts, sondern Ausdruck einer zeitlosen, zeitunabhängigen Lebensweise. Aus diesem Grund sind Hadithüberlieferer und Hadithwissenschaftler inmitten der Gesellschaft. Die Hadithschulen (Darul Hadith), die in den ersten Jahrhunderten der islamischen Geschichte entstanden und in denen Hadithwissenschaften erlernt und ausgeführt werden, blieben bis heute bestehen. Die Hadithwissenschaftler und Überlieferer gestalten ihr eigenes Leben, ihre Familien und die Gesellschaft, kurzum ihr gesamtes Dasein der Sunna entsprechend. Darüber hinaus lösen sie sich bei jeder Überlieferung des Hadith von der Zeit und stellen eine Verbindung zu einer Lehrtradition her. Mit dieser Überlieferungskette und Geschichte verbinden sie einen zeitunabhängigen Sinngehalt und tragen diesen in die Gegenwart. Mithilfe dieser Kette stellen sie eine Brücke zu dem Propheten und somit zum Koran her. Der Hadith bildet also den Mittelpunkt des Kollektivgedächtnisses und gestaltet das gesellschaftliche Leben.



Die Darlegung der Sunna kommt nicht der Wiederholung der Geschichte gleich. Denn das Zeitverständnis im islamischen Glauben überwindet die Abhängigkeit von der Zeit. Mit dieser Überwindung wertet der Überlieferer seine eigene Zeit mit der Vergangenheit auf. Dies geschieht nicht weil dieser Zeitabschnitt besonders gesegnet ist. Schließlich ist es der Segen der Offenbarung, die diese Zeit bedeutsam macht. Genauso verhält es sich mit dem Ramadan, dessen Zeitpunkt sich jedes Jahr verschiebt. Nicht der Zeitabschnitt macht den Fastenmonat zu etwas besonderem, sondern er gibt dem Zeitabschnitt seine Bedeutung und wertet ihn auf. Die Sunna steht über der Zeit und immer aktuell.



Ebenso wie die Sunna eine Koranexegese in den verschiedenen Lebensbereichen darstellt, so ist die Islamwissenschaft die Ausführung und Anordnung der Hadithwissenschaften. Wenn wir die Geschichte unserer Wissenschaften untersuchen, stellen wir fest, dass nahezu alle Bereiche von der Sunna geprägt sind - nicht nur in den Wissenschaften wie Fikh, Hadith oder Akaid, sondern auch in den Bereichen wie Medizin und Philosophie ist der Einfluss der Sunna groß.



Da die Koran- und Hadithwissenschaften in der arabischen Geographie entstanden, also einem Gebiet, das keiner politischen Autorität oder einer Kultur unterlag, verfügen sie über eine eigene Methodik und Inhalt. Auch wenn im islamischen Denksystem die Einflüsse anderer Kulturen vorhanden sind, verfügen insbesondere die Hadithwissenschaften über eine ihnen eigene Methodik und Geschichte. Das System der islamischen Wissenschaften, die im ersten Jahrhundert nach der Hidschra nach Koran und Sunna entstanden, konnte seine Existenz in den darauf folgenden Kulturen und Regionen in Theorie und Praxis bewahren. Neben diesem Fortbestand verfügen die Islamwissenschaften über die Dynamik und Flexibilität, andere Kulturen umzugestalten.



Kulturelle Unterschiede in Form von Umwelteinflüssen, Naturbedingungen und sprachlichen Unterschieden sind zwar vorhanden. Aber der Unterschied des islamischen Glaubenssystems zu vielen anderen Glaubensverständnissen ist, dass sie trotz der gesellschaftlichen Unterschiede, auf Koran und Sunna stützend, in jeder Region existieren kann. Trotz unterschiedlicher Sprachen, Kleidungsgewohnheiten, Lebensweisen wird der Islam überall dem Koran und der Sunna entsprechend praktiziert. Dies geht darauf zurück, dass jeder Leser bei jedem Lesen aufs Neue von dem Koran profitiert. Wenn die Muslime in Europa ihre eigene Kultur gestalten wollen, kann das nicht die Wiederholung einer Epoche in der islamischen Geschichte oder dessen Nachahmung sein. Die Notwendigkeit der Gründung einer neuen Kultur wird unter europäischen Muslimen häufig diskutiert. Diese Notwendigkeit muss jedoch im Einklang mit dem Koran und der Sunna und den daraus entstandenen Wissenschaften geschehen. Für die Gelehrten und Intellektuellen, die sich dieser Aufgabe widmen, ist es erforderlich, dass sie sich dieser historischen Verbindung  bewusst sind. Allein auf Basis dieser wissenschaftlichen und spirituellen Grundlagen können die Dynamiken einer neuen Kultur entstehen.



Igmg